Materialprojekt "Interreligiöser Dialog im Klassenzimmer"
"Im produktiven Umgang mit religiöser Differenz liegt eine zentrale Lernanforderung für die Pluralismusfähigkeit von Schülerinnen und Schülern und unserer Gesellschaft."
Prof. Dr. Wolfram Weiße, ehem. Direktor der Akademie der Weltreligionen
Im Religionsunterricht vollzieht sich ein Perspektivwechsel: Immer stärker rückt darin der Dialog von Menschen unterschiedlicher Religionen ins Zentrum. Oft lernen Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Religionen gemeinsam. Sie stammen aus traditionsbewussten, gläubigen Familien, haben einen religiös-distanzierten Hintergrund oder kommen aus Familien ohne Bezug zu einer Religion. Wo verorten sie sich in zentralen Fragen des Lebens und wie verstehen sie die anderen?
Religionspädagogen und Religionsgelehrte aus Judentum, Christentum, Islam, Alevitentum, Hinduismus und Buddhismus entwickeln im Materialprojekt erstmals gemeinsam Unterrichtsmaterialien. Sie folgen dabei den didaktischen Grundsätzen des interreligiös-dialogischen Ansatzes.
Träger des Projekts sind die Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg, das Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg sowie das Pädagogisch-Theologischen Institut der Nordkirche. Ein Beirat aus Vertreter:innen der Religionsgemeinschaften begleitet die Arbeit.
Das interreligiöse Projekt wird gefördert von der Udo Keller Stiftung Forum Humanum.
Perspektivenwechsel im Religionsunterricht
Sehr oft lernen Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Religionen und Kinder mit und ohne Bindung an eine Religion heute im Unterricht gemeinsam. Im interreligiös-dialogischen Unterricht sollen die Religionen so authentisch wie möglich dargestellt werden.
Die Verschiedenheit wird als Chance begriffen, sich selbst und die anderen besser kennenzulernen, sich miteinander über grundlegende Sinn- und Lebensfragen auszutauschen und im Dialog die eigenen Lebensvorstellungen und –deutungen weiterzuentwickeln. Die Schülerinnen und Schüler vertiefen im Unterricht ihre Kenntnis der eigenen Religion und fremder Religionen. Der Unterricht fördert und schützt die kulturelle und religiöse Identität der Kinder und Jugendlichen. Im Zentrum stehen grundlegende Fragen, die alle angehen. Es geht um Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Glaube und Gott, nach Liebe und Wahrheit, nach Gerechtigkeit und Frieden, nach ethischen Normen für verantwortliches Handeln. Die Schülerinnen und Schüler bringen ihre Erfahrungen ein und gehen individuelle Lernwege. Der Religionsunterricht fördert und schützt die kulturelle und religiöse Identität der Kinder und Jugendlichen. Die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler spielen in diesem Unterricht eine zentrale Rolle. Religiöse Traditionen sollen als Ressourcen für das eigene Nachdenken und für den Austausch in den Blick kommen. Eigene Fragen und Erfahrungen und Geschichten, Gebete und Lehren aus den Religionen werden wechselseitig aufeinander bezogen. Die Schülerinnen und Schüler vertiefen so ihre Kenntnis der eigenen Religion und fremder Religionen.
In einem offenen Dialog bringen die Schülerinnen und Schüler ihre religiösen Fragen und Überzeugungen zur Sprache. Sie entwickeln und schärfen im Austausch miteinander die eigenen Positionen. Auch die Lehrerinnen und Lehrer bringen ihre Überzeugungen pädagogisch verantwortet ein. Die Pluralität von Positionen wird dabei geachtet, was eine vertrauensvolle Unterrichtsatmosphäre schafft. Religiöse Traditionen werden nicht in neutraler religionswissenschaftlicher Perspektive, sondern aus der Innensicht, also entsprechend ihrem Selbstverständnis und in ihrer Bedeutsamkeit für die Schülerinnen und Schüler thematisiert.
Didaktische Grundsätze interreligiös-dialogischen Lernens:
- Schülerorientierung: Der Unterricht setzt bei Themen an, die alle Kinder und Jugendliche angehen. Die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler spielen im Unterricht eine entscheidende Rolle.
- Traditionsorientierung: Die Materialien beziehen eine Vielzahl von Religionen ein. Die Schülerinnen und Schüler lernen wesentliche Inhalte der Religionen kennen. Religiöse Traditionen sollen dabei als Ressourcen für das eigene Nachdenken und für den Austausch mit den anderen in den Blick kommen.
- Dialogorientierung: Das schulische Lernen geschieht im Dialog der Schülerinnen und Schüler. Darin bringen sie ihre Fragen und Überzeugungen zum Ausdruck, entwickeln und schärfen im Austausch miteinander die eigenen Überzeugungen.
- Authentizität: Religionen werden nicht in neutraler religionswissenschaftlicher Perspektive, sondern aus der Innensicht - entsprechend ihrem jeweiligen Selbstverständnis, - und in ihrer Bedeutsamkeit für die Schülerinnen und Schüler thematisiert.
- Wissenschaftsorientierung: Ziele und Inhalte des Unterrichts sind von der Religionspädagogik, der Theologie und verwandten Wissenschaften verantwortet.
Weiterentwicklung des Religionsunterrichts für alle
Hamburger Modell
Der Religionsunterricht für alle: Im Unterschied zu den anderen Bundesländern, wo Religionsunterricht nach Konfessionen und Religionen getrennt erteilt wird, besuchen in Hamburg alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse den Religionsunterricht. Natürlich besteht auch in Hamburg die Möglichkeit, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Diese Möglichkeit wird allerdings nur von einer kleinen Zahl von Schülerinnen und Schülern in Anspruch genommen. Die Inhalte des bisherigen „Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung“ werden gegenwärtig noch ausschließlich von der Nordkirche verantwortet.
Gemeinsame Verantwortung für den Religionsunterricht
Schulbehörde und anerkannte Religionsgemeinschaften Hamburgs arbeiten zurzeit daran, ein Modell unter dem Dach von Artikel 7 (3) des Grundgesetzes zu entwickeln, in dem Inhalte des Religionsunterrichts von allen beteiligten Religionsgemeinschaften gleichberechtigt verantwortet und die Schülerinnen und Schüler weiterhin im Klassenverband unterrichtet werden können. Neben der evangelischen Kirche nehmen daran die muslimischen Verbände Schura, Ditib und VikZ, die alevitische Gemeinde und die jüdische Gemeinde Hamburg teil. Ermöglicht wurde dies durch den 2012 geschlossenen Vertrag der Stadt Hamburg mit muslimischen und alevitischen Gemeinschaften, in dem diese als Religionsgemeinschaften anerkannt wurden. Die katholische Kirche beteiligt sich bisher nicht an diesem Prozess.
Ziel der Weiterentwicklung des "Religionsunterrichts für alle" ist es, u. a. zu ermöglichen, dass neben evangelischen Lehrkräften zukünftig auch muslimische, alevitische und jüdische Religionslehrerinnen und Religionslehrer das Fach unterrichten können. Pilotprojekte haben in diesem Schuljahr begonnen. Ein Studium für die Religionslehrkräfte in multireligiösen Klassen wird an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg aufgebaut. Dort entwickeln Religionsgelehrte aus verschiedenen Religionen eine dialogische Theologie. Am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) wird ein entsprechendes Referendariat vorbereitet. mehr unter Akademie der Weltreligionen und Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Abteilung Ausbildung.
Hintergrund
Bereits Mitte der 1980er Jahre erweiterten die Hamburger Religionspädagogen das Spektrum des Religionsunterrichts um die nichtchristlichen Religionen. In den 1990er Jahren wurden durch das Pädagogisch-Theologische Institut (PTI) der heutigen Nordkirche Vertreterinnen und Vertreter von nichtchristlichen Religionsgemeinschaften in die Entwicklung der Bildungspläne für den "Religionsunterricht für alle" einbezogen. Das PTI und das LI engagieren sich in der Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte und in der Entwicklung der Materialien für interreligiös-dialogisches Lernen für diesen Ansatz. Sie werden dabei von den beteiligten Religionsgemeinschaften unterstützt.
Kooperationspartner
- Dauer: 2011-2021
- Drittmittelgeber: Udo Keller Stiftung Forum Humanum